Dr. Dr. h.c. Michael Schmidt-Salomon (Giordano-Bruno-Stiftung) Laudatio auf Gerhard Czermak anlässlich der Verleihung des Ludwig-Feuerbach-Preises 2023
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des bfg Augsburg! Es ist wohl nicht übertrieben, Ludwig Feuerbach als den Begründer der modernen Religionskritik in Deutschland zu bezeichnen. Jeder Gelehrte auf diesem Gebiet, von Karl Marx und Friedrich Nietzsche über Sigmund Freud und Erich Fromm bis hin zu heutigen Autoren, greift auf die eine oder andere Weise auf Feuerbachsche Argumente zurück. Karl Marx meinte sogar, es gebe „keinen anderen Weg […] zur Wahrheit und Freiheit als durch den Feuerbach“. Feuerbach, so Marx, sei „das Purgatorium der Gegenwart". Man spürt den prägenden Einfluss Feuerbachs in den berühmten Zeilen, die Karl Marx wenig später formulierte: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ Bekanntlich ist Marx bei dieser Feuerbachschen Diagnose nicht stehengeblieben, wie man nicht zuletzt an seinen „Feuerbachthesen“ ablesen kann. Für Marx kam es darauf an, die Welt nicht bloß verschieden zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Nachdem (dank Feuerbach) „das Jenseits der Wahrheit verschwunden“ sei, ging es ihm darum, „die Wahrheit des Diesseits zu etablieren“. Marx schrieb dazu: „Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts […] – und damit sind wir auch schon bei unserem heutigen Feuerbach-Preisträger angekommen: Denn wenn es irgendjemanden gibt, der aufgezeigt hat, wie aus der Kritik der Religion eine Kritik des Rechts erwächst, dann unser Freund Gerhard Czermak! Um es pointiert zu formulieren: So wie man einst durch den Feuerbach gehen musste, um zu einer säkularen Weltsicht zu gelangen, so muss man heute den Czermak-Felsen erklimmen, um die weltanschauliche Schieflage des deutschen Rechtssystems erfassen zu können. Gerhards Leistungen auf diesem Gebiet sind absolut einzigartig. Er ist auf dem Feld des Weltanschauungsrechts eine ähnliche Ausnahmegestalt, wie es Karlheinz Deschner auf dem Gebiet der Kriminalgeschichte des Christentums war. Den Feuerbach-Preis hat er sich also mehr als verdient – und ich freue mich sehr, dass wir heute hier zusammengekommen sind, um Gerhard Czermak im Rahmen dieses Festakts zu ehren! Wenn ich mich recht erinnere, bin ich Gerhard vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert das erste Mal persönlich begegnet. Damals, Mitte der 1990er Jahre, arbeitete ich ehrenamtlich als Redakteur der Zeitschrift „Materialien und Informationen zur Zeit“ (kurz: MIZ), die vom „Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten“ (IBKA) herausgegeben wird, und Gerhard war einer unserer zuverlässigsten Autoren. Seine Beiträge habe ich stets mit großem Interesse verfolgt, allerdings muss ich gestehen, dass ich dem juristischen Zugang zum „Problemfall Religion“ (wie eines der Bücher von Gerhard heißt) damals noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt habe. Und so ist es kein Zufall, dass die erste größere Veröffentlichung, die ich von Gerhard Czermak gelesen habe, keine juristische, sondern eine historisch-politische war, nämlich das Buch „Christen gegen Juden – Die Geschichte einer Verfolgung“. Die Originalausgabe dieses Buchs ist bereits 1989 erschienen, die letzte aktualisierte Neuauflage kam 1997 bei Rowohlt heraus, also vor mehr als 25 Jahren – und doch gibt es meines Erachtens bis heute kein anderes Werk, dass so umfassend und zugleich so kompakt und verständlich über den christlichen Judenhass von der Antike bis ins 20. Jahrhundert berichtet. Die Bücher „Christen gegen Juden“ und „Problemfall Religion“ (beide rund 500 Seiten stark) zeigen, dass sich Gerhard Czermak keineswegs nur mit juristischen Themen beschäftigt hat. Dennoch war und ist dies zweifellos sein Hauptbetätigungsfeld. Das hängt natürlich mit seinem beruflichen Werdegang zusammen. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in München und Würzburg trat Gerhard 1971 in den bayerischen Staatsdienst ein. Dort war er bis zu seiner Pensionierung 2001 als Verwaltungsjurist tätig, insbesondere als Richter hier am Verwaltungsgericht Augsburg. Schon in seiner Promotionsschrift 1972 an der Uni Würzburg hat sich Gerhard mit Fragen des sog. Religionsverfassungsrechts auseinandergesetzt – ein Thema, das ihn bis zum heutigen Tag nicht losgelassen hat. Ab den 1990er Jahren veröffentlichte er dazu unzählige Texte, die sich u.a. mit den historischen Staatsleistungen an die Kirchen, dem kirchlichen Arbeitsrecht oder dem islamischen Kopftuch beschäftigen. Lange Zeit bildete Gerhard dabei eine Art „juristische Ein-Mann-Taskforce“ gegen das große Heer der frommen Staats-Kirchen-Rechtler. Erst Mitte der 2000er Jahre fand er mit dem Würzburger Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosophen Eric Hilgendorf (gbs-Beirat wie Gerhard Czermak) einen namhaften Unterstützer im akademischen Bereich. Zusammen mit Eric Hilgendorf publizierte Gerhard 2008 das Standardwerk „Religions- und Weltanschauungsrecht“ im Springer-Wissenschaftsverlag, das 2018 zum 10-jährigen Jubiläum eine aktualisierte und stark erweiterte Neuauflage erfuhr. Nachdem er 2009 das 400-seitige Lexikon „Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht“ veröffentlicht hatte, schrieb Gerhard für die gbs-Schriftenreihe die kurze, jedoch sehr lesenswerte Abhandlung „Weltanschauung in Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit“, die wenig später noch einmal in einer erweiterten Fassung im Alibri Verlag herauskam. Selbstverständlich war Gerhard als Autor und Mitherausgeber auch am ersten Band der „Schriften zum Weltanschauungsrecht“ beteiligt, der 2019 im Nomos-Verlag erschien. Für die Reihe verfasste er wenig später auch die Monografie „Siebzig Jahre Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage“ – zweifellos eine der spannendsten Arbeiten, die 2021 zum Jubiläum des höchsten deutschen Gerichts veröffentlicht wurden. Vor wenigen Monaten erst erschien in dieser Schriftenreihe eine weitere Monografie von Gerhard Czermak mit dem Titel „Religiös-weltanschauliche Neutralität – Zur rechtsdogmatischen Klärung und zur deutschen Realität“. Es handelt sich dabei um eine Art Resümee seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dem „Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität“, dessen Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung weitreichende Konsequenzen für die gesellschaftliche Wirklichkeit hat. Gerhard Czermak hat in den letzten Jahrzehnten ein nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ imposantes Werk geschaffen. Zweifellos zählt er zu den wichtigsten Vordenkern einer säkularen Rechtspolitik im deutschsprachigen Raum. Wenn irgendjemand in den letzten Jahrzehnten die „Kirchenrepublik Deutschland“ mit soliden juristischen Argumenten angegriffen hat, dann war es Gerhard Czermak! Daher ist es überfällig, dass er dafür geehrt wird. Insofern geht mein heutiger Dank an den einen Gerhard, nämlich an Gerhard Rampp, dass er dafür gesorgt hat, dass der andere Gerhard endlich die Auszeichnung erhält, die er verdient! Was Gerhard Czermak in seinen Schriften immer wieder herausgestellt hat: Deutschland hat das große Glück, eine ausgesprochen moderne Verfassung zu besitzen, in die alle Kernelemente der kurz vorher verabschiedeten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ eingeflossen sind. Gerhard hat sich deshalb das ambitionierte Ziel gesetzt, dafür zu sorgen, dass aus diesem „guten Verfassungstext“ ein ebenso „gute Verfassungswirklichkeit“ wird. Dabei ist es absolut bewundernswert, mit welcher Beharrlichkeit er seine juristischen und rechtsphilosophischen Positionen gegen alle Widerstände vorgetragen hat – nicht bloß gegen die „herrschende Rechtsmeinung“, von der Gerhard immer wieder abweichen musste, sondern auch gegen die partielle Ignoranz vieler säkularer Mitstreiter, die nicht immer in der Lage waren, die Bedeutung von Gerhards Arbeit für den weltanschaulich neutralen Staat in angemessener Weise zu würdigen. Leider kann ich mich selbst da nicht völlig ausnehmen. Denn, wie gesagt: Auch ich maß in den ersten Jahren unserer Bekanntschaft der juristischen Argumentation nicht immer die Bedeutung zu, die ich ihr hätte zuweisen müssen. Man erkennt dies recht gut an einigen Passagen zum „weltanschaulich neutralen Staat“ im „Manifest des evolutionären Humanismus“, die ich heute ganz gewiss nicht mehr in dieser Form formulieren würde. Gerhard hat mich dafür 2005 auf dem Kongress „Leitkultur Humanismus und Aufklärung“ zu Recht gerügt. Damals spürte ich bei ihm auch eine gewisse Verbitterung, als er im privaten Gespräch sagte: „Wofür schreibe ich denn eigentlich diese ganzen Texte, wenn nicht einmal du sie liest?!“ Nun, natürlich hatte ich die Texte gelesen, aber tatsächlich war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht hinreichend klar geworden, dass man im rechtspolitischen Bereich nun einmal anders argumentieren muss als in der Philosophie. Mir fehlte damals noch das Verständnis dafür, dass ein bürokratisch gedrechseltes Zitat aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im juristischen und politischen Kontext natürlich sehr viel stärker wiegt als jedes noch so geschliffene Wort aus den Schriften von Schopenhauer, Marx, Nietzsche oder Popper. Dies änderte sich jedoch im Jahr 2012, als ich in den Genuss kam, gemeinsam mit Gerhard eine Stellungnahme zu einer Verfassungsbeschwerde des bfg München zu formulieren. Ausgelöst wurde diese Verfassungsbeschwerde durch ein Verbot der Münchener „Heidenspaß-Party“ an Karfreitag 2007. Worum ging es dabei? Nun, um die Hintergründe dieses Verfahrens zu verstehen, müssen wir ins Jahr 2005 zurückreisen. Damals nämlich fand die erste „Heidenspaß-Party“ im Rahmen unserer „Religionsfreien Zone“ statt, die wir zum „Katholischen Weltjugendtag“ 2005 in Köln ausrichteten. Für Furore sorgte die Veranstaltung damals nicht zuletzt durch den Papst-Dino-Wagen, den Jacques Tilly entworfen hatte und der unter großem Applaus und ebenso starkem Protest während des Weltjugendtags durch die Kölner Innenstadt fuhr. Assunta Tammelleo, die langjährige Vorsitzende des bfg München, griff diese Idee der „Religionsfreien Zone“ und der „Heidenspaß-Party“ auf, um an Karfreitag 2007 in München eine „Atheistische Filmnacht mit Pralinenbuffet und Heidenspaß-Party“ zu veranstalten. Offensichtlich war diese Ankündigung für die Verwaltungsbehörde in München ein wenig zu provokativ. Daher untersagte sie die „Heidenspaß-Party“, auf der die Band „Heilig“ zum „Freigeister-Tanz“ aufspielen sollte, mit der Begründung, dass eine solche Party mit den Beschränkungen des Feiertagsgesetzes für den Karfreitag als besonders geschütztem „stillen Tag“ nicht vereinbar sei. Der bfg München legte gegen diesen Beschluss Widerspruch ein und klagte sich zunächst erfolglos durch mehrere Instanzen. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht den Klageweg nicht zuließ, war der Weg frei zum Bundesverfassungsgericht. Zur Unterstützung der Verfassungsbeschwerde reichte die Giordano-Bruno-Stiftung eine ausführliche Stellungnahme in Karlsruhe ein, die von Gerhard Czermak und mir formuliert wurde. In dieser Stellungnahme heißt es u.a.: » So wie es Christen innerlich erschüttern mag, dass Religionsfreie an Karfreitag tanzen möchten, ist es für Religionsfreie erschütternd, dass Christen zu einem Gott beten, der seinen „eingeborenen Sohn“ hinrichten ließ, um „die Welt zu erlösen“. Der Staat hat nicht die Aufgabe, zwischen diesen beiden konträren Weltanschauungen zu vermitteln oder gar eine der beiden Perspektiven zu privilegieren. Er hat vielmehr dafür zu sorgen, dass sich jede Bürgerin und jeder Bürger im Rahmen der Verfassung weltanschaulich so betätigen kann, wie er oder sie es möchte. Diesem Anspruch genügt das FTG längst nicht mehr, es ist heute ebenso überholt, wie es einst die christlichen „Sittlichkeitsparagraphen“ waren, die im Zuge der Großen Strafrechtsreform abgeschafft wurden. Die Feiertagsgesetze bedürfen einer grundlegenden Reform – nicht nur in Bayern, sondern bundesweit.“ Selbstverständlich war uns (vor allem Gerhard) klar, dass das Bundesverfassungsgericht das Tanzverbot nicht generell kippen würde. Daher betonten wir in unserem Papier den Umstand, dass das Bayerische Feiertagsgesetz an Karfreitag keine Ausnahmeregelungen vorsieht. Dazu heißt es in unserer Stellungnahme: „Die gesetzliche Regelung ist auch deshalb verfehlt, weil sie nur grob schematisch verfährt und daher den unterschiedlichen Aktivitäten nicht ausreichend Rechnung trägt. Zumindest das Fehlen einer Befreiungsmöglichkeit in § 5 FTG für den Karfreitag macht das Verbot verfassungswidrig.“ Dieser Auffassung ist das Bundesverfassungsgericht erfreulicherweise in seinem Urteil vom 27. Oktober 2016 gefolgt. Es hat das Tanzverbot an Karfreitag zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber klar gemacht, dass es Ausnahmeregelungen für Weltanschauungsgemeinschaften wie den bfg München geben muss. Der weltanschaulich neutrale Staat darf also nach der Entscheidung in Karlsruhe organisierten Freigeistern nicht mehr das Recht absprechen, ihre vom Christentum abweichende Bewertung der „stillen Tage“ durch „Heidenspaß-Partys“ und „Freigeister-Tanzveranstaltungen“ zum Ausdruck zu bringen. Und so fand am 14.4.2017 im Oberangertheater München die erste offiziell erlaubte „Heidenspaß-Party am Karfreitag“ statt, an der neben Assunta und mir u.a. Ralf König, Piero Masztalerz sowie die Live-Band „Smart and Handsome“ mitwirkten. Die Gäste der Veranstaltung gaben mit dem Erwerb der Eintrittskarte folgende Erklärung ab, mit der der weltanschauliche Charakter der Heidenspaß-Party dokumentiert wurde: „Mit dem Betreten der Veranstaltungsräume bestätigen Sie, a) dass Sie einer humanistischen Weltanschauung folgen, b) weder an Götter noch an Elfen, Kobolde oder Dämonen glauben und c) dass jede noch so kleine rhythmische Zuckung Ihres Körpers auf der Heidenspaß-Party Ausdruck dieses weltanschaulichen Bekenntnisses ist.“ Die Heidenspaß-Party an Karfreitag 2017 war ein voller Erfolg. Selten habe ich so viele glückliche Gesichter an Karfreitag gesehen. Ein Jahr später haben wir dann den „humanistischen Tanzsegen“, den ich auf der Heidenspaß-Party gesprochen habe, als Video veröffentlicht, das Veranstalter seither bundesweit nutzen, um Tanzveranstaltungen an Karfreitag humanistisch zu unterfüttern und dadurch überhaupt erst zu ermöglichen. Ich habe gewisse Zweifel daran, dass Gerhard Czermak ein besonders leidenschaftlicher Tänzer ist, doch auf jeden Fall hat er maßgeblich mit dazu beigetragen, dass Menschen an den sogenannten „stillen Tagen“ nun das Tanzbein schwingen können. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das wir gemeinsam mit dem bfg München erstritten haben, ist allerdings nicht nur für die Frage der Feiertagsgesetze bedeutsam. Denn es ist eines der wenige Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die in der gebührenden Klarheit verdeutlichen, dass religiöse und nicht-religiöse humanistische Bekenntnisse gleich zu behandeln sind. Insofern war der Einsatz gegen das Tanzverbot zugleich auch ein Einsatz für den weltanschaulich neutralen Staat. Für mich persönlich haben sich aus der damaligen Zusammenarbeit mit Gerhard zwei interessante Lernerfahrungen ergeben: Erstens lernte ich, wie man in einem verfassungsrechtlichen Kontext juristisch sauber argumentiert, und zweitens wurde mir im Zuge des Erfolgs der Verfassungsbeschwerde klar, dass man mit einer vielleicht etwas langweiligeren, aber juristisch soliden Argumentation mitunter sehr viel mehr bewegen kann als mit jeder noch so schönen Pressemitteilung, Demo oder Festveranstaltung. Etwa zu dieser Zeit reifte auch die Idee zur Gründung eines eigenen säkularen Rechtsinstituts. Es hat nach der ersten Begegnung von Gerhard und mir zwar gute 20 Jahre gedauert, bis das Institut für Weltanschauungsrecht im Februar 2017 offiziell gegründet wurde, aber dafür ist der Impact dieses Instituts, wie ich finde, äußerst bemerkenswert. Ohne dich, lieber Gerhard, würde es das Institut für Weltanschauungsrecht wahrscheinlich nicht geben – und wir hätten als Stiftung keine maßgeblichen Beiträge auf dem Gebiet der Rechtspolitik leisten können, etwa für die Aufhebung des „Sterbehilfeverhinderungsparagrafen“ 217 StGB durch das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 oder für die Streichung des „Ärzteeinschüchterungsparagrafen“ 219a StGB, die der Deutsche Bundestag im Juni 2022 vorgenommen hat. Ich selbst hätte sicherlich nicht als „Sachverständiger Dritter“ in der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe für das „Recht auf Letzte Hilfe“ plädieren können und hätte wohl auch nicht das erforderliche Rüstzeug gehabt, um eine Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde von Kristina Hänel zu formulieren. Ohne das ifw hätte es keine bundesweiten Anzeigen gegen die katholischen Bistümer gegeben und die Missbrauchsopfer hätten sehr viel geringere Chancen auf eine halbwegs angemessene Entschädigung für das erlittene Leid. Ohne das ifw gäbe es auch keinen vernünftigen juristischen Beistand für die mutigen Kritikerinnen und Kritiker des islamischen Faschismus wie Hamed Abdel-Samad, Seyran Ates und Mina Ahadi. Auch die Debatten über die historischen Staatsleistungen an die Kirchen, das kirchliche Arbeitsrecht und den staatlichen Einzug der Kirchensteuer hätten einen deutlich anderen Verlauf genommen, um hier nur einige Felder zu benennen, auf denen das ifw aktiv ist. Ohne dein Insistieren auf den weltanschaulich neutralen Staat, lieber Gerhard, hätten wir die Buskampagne 2019 sicherlich unter ein ganz anderes Motto gestellt und auch keinen Festakt zu „70 Jahren Grundgesetz“ in Karlsruhe veranstaltet. In diesem Kontext haben wir (mit Verweis auf deine Schriften) auch ganz konkret aufgezeigt, was sich an der deutschen Rechtspolitik ändern muss, um dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität zu genügen – allesamt Punkte, die der „Zentralrat der Konfessionsfreien“ inzwischen in seine politische Agenda „Die säkulare Ampel“ aufgenommen hat. In der Vorbereitung auf diesen Festakt habe ich mich gefragt, warum ich selbst so lange gebraucht habe, um einzusehen, dass wir in der gesellschaftlichen Debatte vor allem auch mit juristischen Argumenten punkten müssen. Vielleicht lag es an einem gewissen philosophischen Snobismus, nämlich der unreflektierten Intuition, dass man sich als „ordentlicher Philosoph“ nicht in die Niederungen des materiellen Rechts herabbegeben sollte. Immerhin wird derjenige, der Grundrechtsartikel und Strafrechtsnormen statt Nietzsche oder Schopenhauer zitiert, schnell zum „Paragrafenreiter“ abgestempelt. Dank dir, lieber Gerhard, habe ich diese Hemmungen in den letzten Jahren zunehmend überwunden und gebe inzwischen freimütig zu, selbst ein passionierter Paragrafenreiter zu sein. Auch dafür, lieber Gerhard, möchte ich mich herzlich bei dir bedanken! Ich komme zum Schluss: Meine Damen und Herren, als Gerhard Czermak am 6. Oktober 1942 in Brünn geboren wurde, waren über 95 Prozent der Deutschen entweder Katholiken oder Protestanten. Als er am 6. Oktober 2022 seinen 80. Geburtstag feierte, lag der Bevölkerungsanteil der Katholiken und Protestanten in Deutschland nur noch bei knapp 49 Prozent! Ich gebe zu: Dieser markante gesellschaftliche Wandel ist nicht allein auf Gerhards Wirken zurückzuführen, klar ist aber, dass er mit seinen wegweisenden Arbeiten zum Weltanschauungsrecht maßgeblich dazu beigetragen hat, dass mehr und mehr Menschen in Deutschland die staatliche Privilegierung der Religionsgemeinschaften, insbesondere der Kirchen, nicht länger mittragen möchten. Nicht zuletzt hat Gerhard daran mitgewirkt, dass das Gebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates im politischen Raum heute ein sehr viel größeres Gewicht erhält als jemals zuvor. Zwar gibt es noch immer vielfältige Verstöße gegen dieses Neutralitätsgebot, doch immerhin wird dies von vielen Politikerinnen und Politikern inzwischen als Problem erkannt, was vor 20 Jahren noch deutlich anders war. Es gibt heute ein sehr viel klareres Bewusstsein dafür, dass nur ein weltanschaulich neutraler Staat die Freiheit und Gleichheit seiner Bürgerinnen und Bürger gewährleisten kann. Gerhard Czermak hat genau das getan, was Karl Marx in der Nachfolge von Ludwig Feuerbach gefordert hat: Er hat die Kritik der Religion in eine Kritik des Rechts überführt und dabei vielen von uns – auch mir persönlich – die Augen dafür geöffnet, an welchen Punkten wir ansetzen müssen, um die Welt im humanistischen Sinne zum Besseren zu verändern. Deshalb gratuliere ich dir, lieber Gerhard, von ganzem Herzen zum Erhalt des Feuerbach-Preises – ich möchte aber auch dem bfg Augsburg gratulieren, dass er mit Gerhard Czermak eine Person gefunden hat, die diese Auszeichnung im höchsten Maße verdient. Damit reiht sich Gerhard ein in die illustre Liste der bisherigen Feuerbach-Preisträger: Karlheinz Deschner, Franz Buggle, Norbert Hoerster, Herbert Steffen und Ingrid Matthäus-Maier. Sie alle haben dazu beigetragen, dass rationale, freigeistige Argumente eine größere Beachtung in der gesellschaftlichen Debatte finden. Auch wenn die Beiträge des brillanten „Streitschriftstellers“ Karlheinz Deschner auf den ersten Blick spektakulärer erscheinen mögen, sollte man die Wirkungen, die von den eher nüchternen, juristischen Texten Czermaks ausgehen, nicht unterschätzen. Denn ich bin überzeugt, dass sich Gerhards eindrückliches Beharren auf das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates letztlich durchsetzen wird – schon allein deshalb, weil es keinen anderen demokratisch-rechtstaatlichen Weg gibt, die Prinzipien der offenen Gesellschaft gegen ihre wiedererstarkten Feinde (etwa gegen die Kumpanen der Hamas) zu verteidigen. Es sollte klar sein: Nur wenn der Staat als neutraler, unparteiischer Schiedsrichter auf dem Spielfeld der Religionen und Weltanschauungen auftritt, besitzt er die notwendige Autorität, um die für alle geltenden Spielregeln durchsetzen zu können. Es ist das große Verdienst von Gerhard Czermak, dies in aller gebotenen Klarheit und Nachdrücklichkeit formuliert zu haben. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit…
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