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Rede des Preisträgers Prof. Dr. Dr. Norbert Hoerster

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Bund für Geistesfreiheit Augsburg und bei seinem Vorsitzenden Herrn Michalke für den Ludwig-Feuerbach-Preis 2008, dessen Verleihung für mich eine Ehre ist. Außer Herrn Michalke danke ich auch den übrigen Personen, die zur Gestaltung dieses Abend beigetragen haben, insbesondere Herrn Professor Wetz sowie - als Musikliebhaber, der ich bin - Herrn Münch, dem Pianisten.

Ich bin zwar kein Ludwig-Feuerbach-Experte, schätze aber kaum einen anderen deutschen Philosophen und Religionskritiker mehr als Ludwig Feuerbach. Zum Beweis darf ich auf die Tatsache hinweisen, dass ich in meine allererste Veröffentlichung zur Religionsphilosophie, meinen 1979 erschienenen dtv-Band "Glaube und Vernunft. Texte zur Religionsphilosophie" wesentliche Auszüge aus Feuerbachs Buch "Das Wesen des Christentums" - unter dem Titel "Gott als Projektion des idealen Menschen" - aufgenommen habe.

Ein weiterer Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Bemühung neben der Religionsphilosophie war in den letzten 10 Jahren die sogenannte Bioethik. Und da Herr Michalke mir gegenüber die Vermutung geäußert hat, dass diese Thematik Sie hier und heute vielleicht am ehesten interessieren würde, möchte ich zu ihr, also zur Bioethik, nun einige prinzipielle Ausführungen machen - ich hoffe, nicht länger als eine Viertelstunde.

Ich sagte "prinzipielle Ausführungen". Ich möchte also weniger zu Einzelfragen der Bioethik Stellung nehmen, als vielmehr zur Art der Begründung, wie sie mir auf diesem Gebiet als angebracht bzw. als nicht angebracht erscheint. Insbesondere möchte ich darauf hinweisen, dass bestimmte Argumentationsformen, wie sie in unserer Gesellschaft derzeit gerade auf dem Gebiet der Bioethik tonangebend sind, von elementaren Rationalitätsstandards weit entfernt sind.

Bekanntlich geht es in der Bioethik um ethische Fragen des Lebens, und zwar vor allem des menschlichen Lebens. Die zentrale ethische Frage im Zusammenhang mit dem menschlichen Leben aber lautet: Sollen wir dieses Leben - das eigene Leben wie das Leben unserer Mitmenschen - unter allem Umständen bewahren und schützen? Was spricht eigentlich dagegen, dass wir uns selbst, ja dass wir sogar andere Menschen unter Umständen einfach umbringen?

Nun, da werden Sie sagen: Das ist aber eine sehr akademische Frage. Denn darüber sind wir uns doch alle einig, dass man jedenfalls im Normalfall einen anderen Menschen nicht einfach töten darf. Meine Antwort darauf lautet: Das ist zwar richtig. Doch unsere Einigkeit in der Frage betrifft in Wahrheit nur das Ergebnis. Durchaus nicht einig sind wir uns über die Begründung, die zu dem Ergebnis, also zu dem allgemeinen Tötungsverbot führt.

Denn die Gründe, die für dieses Verbot gewöhnlich genannt werden, sind ganz unterschiedlicher Art. Ich nenne nur einige Stichworte: die Menschenwürde; die Selbstbestimmung des Individuums; ein Gebot des Naturrechts; das Menschenrecht auf Leben; das fünfte der göttlichen Zehn Gebote usw. Dabei ist mit jedem dieser Stichworte gewöhnlich eine mehr oder weniger ausführliche Begründungstheorie - sei es empirischer, metaphysischer oder religiöser Art - verbunden. Auf all das kann ich hier nicht näher eingehen.

Stattdessen komme ich nun zu meinem ersten wesentlichen Punkt, der lautet: Umstritten ist in der Bioethik zwar nicht das Tötungsverbot als solches, bezogen auf den Kernbereich des menschlichen Lebens. Umso mehr umstritten aber ist das Tötungsverbot im Grenzbereich, also am Anfang und am Ende dieses Lebens. Stichworte: Abtreibung bzw. Embryonenschutz auf der einen und Sterbehilfe auf der anderen Seite. Und in diesen sehr umstrittenen Bereichen - und das ist mein Punkt in diesen sehr umstrittenen Grenzbereichen des Tötungsverbots, da wird die Frage, welches der eigentliche Grund für das Tötungsverbot überhaupt ist, nun plötzlich auch im höchsten Maße praktisch und rechtspolitisch relevant.

Lassen Sie mich dies nun näher zeigen - und zwar an zwei sehr unterschiedlichen Begründungen, die seit je für das Tötungsverbot gegeben werden. Die erste dieser Begründungen wird vor allem von den christlichen Kirchen und ihren Theologen vertreten. Sie lautet: Gott hat dem Menschen das Leben gegeben; also darf auch nur Gott es dem Menschen wieder nehmen. Denn der Mensch zeichnet sich gegenüber den Tieren, die getötet werden dürfen, dadurch aus, dass er - der Mensch von Gott als sein, als Gottes Ebenbild geschaffen wurde.

Diese Sichtweise ist übrigens - nebenbei bemerkt – einer der Gründe, warum viele heutige US-Amerikaner 'die Darwinsche Evolutionstheorie so vehement ablehnen. Wenn diese Theorie richtig wäre, wenn der Mensch also vom Affen abstammte, dann, so ein führender amerikanischer Kritiker der Evolutionstheorie, müßten wir ja auch bereits den Affen als 'Ebenbild Gottes betrachten. Das aber wäre eine so unerträgliche Blasphemie, dass sich die Evolutionstheorie damit von selbst erledigt. Von welchem Zeitpunkt seiner Entwicklung an besitzt nun der Mensch nach dieser religiösen Sichtweise jene Gottesebenbildlichkeit, die es verbietet, ihn zu töten? Die Antwort lautet: Von jenem Zeitpunkt an, in dem dem Menschen von Gott eine unsterbliche Seele eingehaucht wird und der Mensch eben damit an der Unsterblichkeit Gottes teilhat. Dieser Zeitpunkt aber ist nach derzeitiger theologischer Lehre der Zeitpunkt der Befruchtung. Bereits die befruchtete Eizelle ist also mit einer unsterblichen Seele ausgestattet.

Frühere Theologen waren da zum Teil anderer Meinung. So vertrat etwa Thomas von Aquin die Auffassung, dass Gott dem menschlichen Embryo die unsterbliche Seele erst eine Zeitlang nach der Befruchtung einhaucht - dem männlichen Embryo vierzig, dem weiblichen sogar erst achtzig Tage nach der Befruchtung. Diese Sichtweise kann heute natürlich nicht mehr als politisch korrekt gelten und wird deshalb selbst von glaubenstreuen Bioethikern gewöhnlich totgeschwiegen. Nach heutiger Sichtweise gilt das religiöse Argument der Gottesebenbildlichkeit für Männlein und Weiblein von der Befruchtung bis zum natürlichen Tod des Menschen. Das heißt: Jede Form gezielter aktiver Tötung - also die Sterbehilfe ebenso wie die Selbsttötung - muß verboten bleiben. Soweit die religiöse Begründung des Tötungsverbots.

Eine ganz andere Begründung dieses Verbots, die ohne alle religiösen oder metaphysischen Voraussetzungen auskommt und die ich mir zu eigen gemacht habe, lautet, g~ob gesprochen, wie folgt: Sinn und Zweck des Tötungsverbots bzw. des Menschenrechts auf Leben ist allein der Schutz des menschlichen Lebensinteresses oder Überlebensinteresses, wie es für jeden halbwegs normalen und gesunden Menschen charakteristisch und typisch ist.

Bei diesem Überlebensinteresse aber handelt es sich offensichtlich um eine Voraussetzung, die rein empirischer Natur ist und die keinerlei religiöse oder weltanschauliche Glaubensinhalte zur Grundlage hat. Niemand von uns, ob religiös oder nicht, möchte ja in einer Gesellschaft leben, in der jeder jeden nach Belieben töten darf. Was folgt nun aus einem solchen empirischen Begründungsansatz des Tötungsverbots für die strittigen Fragen am Lebensanfang und am Lebensende?

Was den Lebensanfang angeht, so folgt, dass jedenfalls jenes strikte Tötungsverbot, das mit dem individuellen Menschenrecht auf Leben verbunden ist, dem ungeborenen Embryo oder Fötus, der ja das für den Menschen typische Überlebensinteresse noch gar nicht haben kann, auch noch nicht zusteht.

Was jedoch das Tötungsverbot am Lebensende bzw. das Verbot des Suizids angeht, so ist die Konsequenz dieses empirischen Begründungsansatzes die folgende: In all jenen Fällen, in denen ein Mensch nach eingehender Überlegung zu dem Schluß kommt, dass sein Interesse an einem Weiterleben nicht mehr vorhanden ist - eine Situation, die insbesondere im Fall eines schweren, unheilbaren Leidens leicht nachvollziehbar ist - in all diesen Fällen muß ein solcher Mensch das Recht haben, entweder sich selbst zu töten oder sich durch einen Arzt, der seine Situation kompetent beurteilen kann, töten zu lassen.

Soweit zu diesen beiden sehr unterschiedlichen Begründungsansätzen für das generelle Verbot der Tötung und zu den ebenso unterschiedlichen bioethischen Konsequenzen dieser beiden Begründungsansätze. Wie aber soll man nun mit diesen Konsequenzen umgehen in einer Gesellschaft, in der beide diese Begründungsansätze für das Tötungsverbot gleicherweise präsent sind und vertreten werden? Auf diese Frage möchte ich eine sehr dezidierte Antwort geben, nämlich:

Man sollte jedem die Freiheit und die Möglichkeit geben, mit den strittigen Problemen am Lebensanfang und am Lebensende nach seiner persönlichen moralischen Grundeinstellung umzugehen. Das heißt: Der Vertreter der religiösen Position darf in keiner Weise genötigt oder gar gezwungen werden, seiner Auffassung zuwider zu handeln. Und das heißt ebenfalls: Auch der Vertreter der empirischen Position darf in keiner Weise genötigt oder gar gezwungen werden, seiner Auffassung zuwider zu handeln.

Ich möchte deutlich sagen: Für mich in meiner Eigenschaft als Rechtsphilosoph hat die moralische Frage, wie der Einzelne mit dem Leben am Lebensanfang und Lebensende umgehen soll, nie im Zentrum des Interesses gestanden. Denn zum einen glaube ich nicht, dass es in dieser Frage in unserer Gesellschaft jemals zu einem allgemeinen Konsens kommen wird. Und zum anderen sehe ich im Prinzip auch kein Problem darin, dass in diesem Bereich ebenso wie in manchen anderen Bereichen (etwa im Bereich der Sexualmoral) jeder Einzelne seiner eigenen Moral folgt, dass also auch ganz unterschiedliche moralische Vorstellungen und Ideale friedlich nebeneinander existieren.

Die alles entscheidende Frage in der gesamten Bioethik hat für mich deshalb nie gelautet "Welches sind auf diesem Gebiet die moralisch richtigen Handlungen" sondern immer nur: "Gibt es einen rationalen, jedermann nachvollziehbaren Grund dafür, dass ein Staat, der prinzipiell an der Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums orientiert ist, bestimmte Handlungen auf diesem Gebiet strafrechtlich verbietet?"

Ich habe deshalb auch nie, wie erst kürzlich in einer Zeitschrift wieder behauptet worden ist, etwa die aktive Sterbehilfe "propagiert". Was ich in meiner Eigenschaft als Rechtsphilosoph propagiert habe und immer noch propagiere, ist keineswegs die aktive Sterbehilfe, sondern ist die strafrechtliche Freigabe der aktiven Sterbehilfe.

Ich hoffe, Sie verstehen, dass dies zwei sehr verschiedene Dinge sind. Wer etwa in einem islamischen Land heute die strafrechtliche Freigabe der Homosexualität propagiert, muß ja auch deshalb nicht die Homosexualität als solche propagieren. Es reicht aus, wenn die Politiker dies tun sobald es ihnen Wählerstimmen einbringt.

Zurück zum strafrechtlichen Verbot insbesondere der aktiven Sterbehilfe. Ich kann nicht nachvollziehen, wie in einem prinzipiell religiös neutralen Staat eine spezifisch religiöse Lehre wie die von mir dargestellte - und nicht ihre doch jedermann, also auch dem religiösen Mitbürger ohne weiteres nachvollziehbare empirische Alternative - Grundlage eines strafrechtlichen Verbots sein kann. Schließlich ist ein strafrechtliches Verbot die größtmögliche Beschränkung der Freiheit des Individuums, die es in einem demokratischen Staat überhaupt geben kann.

Nun würden dieser Aussage heute sogar unsere religiösen Fundamentalisten zustimmen - jedenfalls in der Öffentlichkeit. Stattdessen bedienen sich diese Menschen ganz bestimmter, religiös neutral gefaßter Ersatzargumente, die ihnen unsere führenden Politiker, Juristen und Journalisten aus Angst davor, angeprangert zu werden, dann nachreden. Diese Ersatzargumente sind allerdings weitgehend auf einem Niveau, dass unsere öffentlichen Meinungsführer sich ihrer eigentlich schämen müßten. Hier eine kleine Auslese.

Als vor ein paar Jahren in den Niederlanden die aktive Sterbehilfe legalisiert wurde, nahm unsere damalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin in zahlreichen Interviews dazu Stellung. Ihr Hauptargument gegen jede Legalisierung aktiver Sterbehilfe war dabei immer das gleiche. Es lautete: Jede aktive Sterbehilfe ist nichts anderes als Euthanasie. Und was Euthanasie ist, haben uns die Nationalsozialisten ja ein für allemal gezeigt.

Auf ein ähnliches Niveau begab sich der langjährige Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Motgomery, als er in einem Zeitungsinterview jede aktive Sterbehilfe für identisch erklärte mit "Abspritzen oder Keulen wie beim Vieh".

Ein besonders wirkungsvolles Argument gegen die aktive Sterbehilfe fiel Jörg-Dietrich Hoppe, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, ein. Hoppe glaubte, als Folge der Legalisierung der Sterbehilfe in den Niederlanden eine Fluchtbewegung der um ihr Leben fürchtenden niederländischen Bürger nach Deutschland feststellen zu können und behauptete zum Beweis dafür in einer Fernseh-Sendung tatsächlich: "Ich beobachte, dass manche flüchten". Zur Erklärung: Hoppe wohnt in einern Ort am Niederrhein 30 km entfernt von der holländischen Grenze. Man muß also annehmen, dass das gesamte Niederrheingebiet von Flüchtlingsströmen aus dem benachbarten Holland heimgesucht wird.

Als wissenschaftlich denkender Mensch fühlt man sich mit der Aufgabe, Argumente der hier zitierten Art im einzelnen zu widerlegen, doch leicht unterfordert. Ich will aber gern zugeben: Es gibt auch seriösere Argumente gegen die Zulassung einer aktiven Sterbehilfe, wie das Argument drohenden Mißbrauchs - ein Argument, dessen Widerlegung der Mühe wert ist. Grundsätzlich ist zu diesem Argument folgendes zu sagen:

1. Rationalerweise muß man, wenn die Zulässigkeit irgendeiner rechtlichen Regelung zur Debatte steht, die Nachteile und die Vorteile der Regelung gegeneinander abwägen. Mißbrauchsgefahren allein sind demnach noch kein schlüssiges Gegenargument. Sonst dürften wir prinzipiell auch etwa keine Notwehrtötung zulassen und keinen Verteidigungskrieg, wo Mißbrauch ja fast die Regel ist.

Und 2. Mißbrauchsgefahren bestehen keineswegs nur im Fall einer direkten aktiven Sterbehilfe. Sie bestehen ebenfalls im Fall einer indirekten aktiven Sterbehilfe sowie im Fall einer passiven Sterbehilfe. Wer deshalb - wie unsere weltanschaulichen und politischen Meinungsführer - die Mißbrauchsgefahen im Fall der indirekten aktiven sowie der passiven Sterbehilfe, die beide inzwischen bei uns rechtlich akzeptiert sind, nicht einmal zur Debatte stellt, zeigt damit nur allzu deutlich, dass die im Fall der direkten aktiven Sterbehilfe beschworenen Mißbrauchsgefahren im Grund nur vorgeschoben sind.

Den wahren Grund - nämlich das von mir zuvor genannte spezifisch religiöse Tötungsverbot - traut man sich nicht mehr offen anzuführen. Denn angeblich leben wir ja in einem religiös neutralen Staat!

Ich bin ausführlich auf das Mißbrauchsthema im Fall aktiver Sterbehilfe in meinem Buch "Sterbehilfe im säkularen Staat" eingegangen. Ich möchte deshalb dieses Thema hier nicht weiter verfolgen, sondern - zumal das Zeitlimit, das ich mir gesetzt habe, bereits erreicht ist - an diesem Punkt meine Ausführungen beenden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.



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