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Laudation von Prof. Dr. Franz Josef Wetz

Norbert Hoerster – Ein schonungslos analytischer Rationalist Laudatio zur Verleihung des Ludwig-Feuerbach-Preises

Wie viele Irrtümer dürfen Wissenschaftler lehren? Im Grunde genommen überhaupt keinen! Doch warum tun sie es unentwegt? Sicherlich tun es die meisten nicht mala fide, weil sie der Wahrheit überdrüssig wären. Im Gegenteil lehren sie bona fide Irrtümer, weil sie es nicht besser können. Viele Lehrinhalte von Hochschulen und Universitäten sind vermutlich falsch und in absehbarer Zeit so überholt, wie es vergangenes Wissen für uns heute ist. Hierüber tröstet den Wissenschaftler für gewöhnlich seine anmaßende Verkennung dieser Situation oder die beruhigende Sicherheit hinweg, dass ohne endgültige Wahrheitsfindung auch künftig sein Arbeitsplatz erhalten bleiben wird. Dass wir die endgültige Wahrheit nicht kennen, ja nicht einmal erkennen könnten, falls wir sie kennen würden, wie Popper meint, ist allerdings gar nicht schlimm. Wahrscheinlich wären wir ohnehin enttäuscht, wenn wir alles wüssten und würden bass erstaunt fragen: Soll dies wirklich schon alles sein?
Der Mensch – ein schmalnasiges Säugetier mit übergewichtigem Kopf auf einer für den aufrechten Gang eher ungeeigneten Wirbelsäule – ist ein Lebewesen, das oftmals tut, was es gar nicht kann. Doch sind es weniger Größenwahn und Eitelkeit als vielmehr Handlungsdruck, Orientierungsbedarf und Wissbegier, die ihn zur Ermöglichung des nahezu Unmöglichen zwingen: nämlich zu leben. Dass menschliches Leben fast unmöglich ist, erkannte schon der späte Sigmund Freud, bei dem man lesen kann: „Das Leben, wie es uns auferlegt wurde, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren.“ Freud dachte hier unter anderem an Rauschstoffe und damit an Wilhelm Busch, der in der Frommen Helene schreibt: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Tatsächlich müssen wir Menschen das Vertrauen in die Lebbarkeit des eigenen Daseins immer wieder von neuem gewinnen. Denn wir sind nicht nur da, sondern müssen auch viel dafür tun, um da sein zu können. Mögen wir an die Natur angepasst sein, an die Probleme, vor die das Leben uns stellt, sind wir es häufig nicht.
Ein bewährtes Mittel zur Daseinsbewältigung sind die Wissenschaften, ohne die viele von uns schon nicht mehr, ja vermutlich überhaupt nicht leben würden. Sie helfen uns, sich besser auf das Leben zu verstehen. Über viele Zwischenstationen vermittelt üben sie so eine organisierende Wirkung auf unser Bewusstsein und Verhalten aus. Ob Medizin, Technik und Kunst oder Recht und Religion – sie alle sind lebensbedeutsame Teilbereiche unserer Kultur.
Speziell Recht und Religion treten mit dem Anspruch auf, das menschliche Zusammenleben zu regeln und dem Einzelnen Halt und Orientierung zu geben. Dabei halten ihre Gebote und Gesetze den Einzelnen sinnvollerweise oder unsinnigerweise von mancherlei ab, das er sonst zu tun bereit wäre.
Beides – Recht und Religion – steht im Lichtkegel der kritischen Arbeiten des diesjährigen Preisträgers: Norbert Hoerster, der mit seinem kompromisslosen, analytischen Denken die Fachwelt und Öffentlichkeit manchmal verstört, manchmal empört. Dieser Querdenker, der mit der Ruhe des Geistes die Unruhe des Lebens zu bestehen sucht und der bisweilen als Querulant beschimpft wird, wurde 1937 in Lingen an der Ems geboren. Für sein Philosophieren ist ein intellektueller Optimismus charakteristisch, wonach analytischer Scharfsinn und widerspruchsfreie Logik mit der Fülle des Lebens und dem Ernst des Sterbens vereinbar seien. Nach Besuch eines humanistischen Gymnasiums studierte Hoerster Rechtswissenschaft und Philosophie. Im Jahre 1964 wurde er zum Doktor der Rechte promoviert und 1967 Doktor der Philosophie. Studien- und Forschungsaufenthalte brachten Hoerster sowohl an die University of Michigan als auch an die University of Oxford. An der Münchener Universität, wo er 1972 habilitiert wurde, war er Assistent von Wolfgang Stegmüller. Im Jahre 1974 wurde er als Nachfolger Theodor Viehwegs an die Universität Mainz auf den Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie am juristischen Fachbereich berufen. Dort lehrte er bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung im Jahre 1998. Nicht zuletzt seiner umstrittenen Thesen wegen ist Norbert Hoerster wohl der bedeutendste deutschsprachige Rechtsphilosoph. Seine Bücher diskutieren nicht bloß Experten kontrovers, sie spalten auch die Öffentlichkeit in engagierte Befürworter und erbitterte Gegner. Insbesondere seine Aussagen zum Embryonenschutz und zur Sterbehilfe hatten oft polemische, häufig unangemessen aggressiv geführte Angriffe zur Folge. So kam es zu Störungen und Sprengungen von Vortragsveranstaltungen, wochenlangem Telefonterror und eine Verleumdungskampagne des Mainzer Asta, deren Kern die aberwitzige Behauptung bildete, Hoerster vertrete nationalsozialistische Thesen und propagiere die Ermordung von Behinderten – eine Kampagne, die der damalige Präsident der Mainzer Universität nicht untersagte. Dieses alles führte auf Hoersters Wunsch zu dessen vorzeitiger Pensionierung im Jahre 1998.
Der Jubilar ist Herausgeber und Verfasser zahlreicher Bücher und Aufsätze. Stellvertretend dafür seien hier nur einige Monografien aufgezählt: Abtreibung im säkularen Staat, Sterbehilfe im säkularen Staat, Ethik des Embryonenschutzes, Haben Tiere eine Würde?, Ethik und Interesse, Was ist Recht? und Die Frage nach Gott, um nur einige Titel zu nennen.
Genauer betrachtet sind es drei Themenbereiche, mit denen sich Hoersters Schriften näher befassen: erstens mit juristischen und ethischen Grundlagenfragen, welche sich auf die Bedeutungen und Begründungen von Recht und Moral beziehen. Hierzu gehören seine kritischen Untersuchungen zur Straftheorie sowie zum Begriff Menschenwürde oder Tierwürde. Zweitens behandelt Hoerster in seinen Schriften bioethische Fragen, die sich vor allem auf Anfang und Ende des menschlichen Lebens beziehen. Es sind vor allem diese Werke, die ihn hierzulande berühmt gemacht haben. Die Kontroversen entzündeten sich an ihrer Radikalität, die unvorbereiteten Lesern den Atem verschlagen kann. Drittens widmet Hoerster der christlichen Religion große Aufmerksamkeit. So hat er nicht nur religionsphilosophische und religionskritische Textsammlungen herausgegeben, sondern außerdem ein religionsskeptisches Buch mit dem schlichten Titel Die Frage nach Gott der Öffentlichkeit vorgelegt. Bei der Bearbeitung dieser drei Themenkomplexe bleibt Hoerster stets kritisch gegen die kontinentale Philosophie, vor allem gegen den Buchhalter des absoluten W eltgeistes: Hegel. Besonders aufgeschlossen ist er dagegen für bestimmte Strömungen der angelsächsischen Philosophie.
So verschiedenartig die von Hoerster bearbeiteten Themen sind, was alle Schriften miteinander verbindet, ist die Art der Herangehensweise. Für seine Methode hat er zwei Vorbilder, deren inhaltliche Position er gleichfalls weitgehend teilt. Sein erstes Vorbild entstammt dem 18. Jahrhundert; es ist der schottische Philosoph und Religionskritiker David Hume. Sein zweites stammt aus dem 20. Jahrhundert; es ist der in Australien geborene Philosoph und Religionskritiker John Leslie Mackie. Hoerster verbindet mit beiden außer gedanklicher Schärfe eine klare, unprätentiöse, nüchterne Sprache. An die Stelle von aufgeblähtem Tiefsinn setzt er stets aufgeklärten Scharfsinn. Parfümierter Rhetorik setzt er eine karge analytische Logik entgegen. Ungenauigkeit ist diesem in der analytischen Philosophie geschulten Geist zuwider.
Wohin Ungenauigkeit schon beim bloßen Fragen führen kann, können wir anschaulich und anekdotisch von Theodor Fontanes Tochter Mete lernen, die in einem Brief an ihren Vater von einer Schulszene berichtet, in welcher der Lehrer eine Mitschülerin aufforderte, ihm vier Tiere in Afrika zu nennen. Sie antwortete: ein Rhinoceros und drei Löwen!
Dagegen können wir von jenem Garderobenpagen lernen, was Präzision meint, der seines guten Gedächtnisses wegen keinen Beleg benötigte, um die ihm ausgehändigten Kleidungsstücke zurückgeben zu können. Eines Tages fragte ihn ein Hotelgast, wie er noch wissen könne, dass dies sein Hut sei. Daraufhin erwiderte der Garderobenpage, dass er nur wisse, dass der Hotelgast diesen Hut bei ihm vor zwei Stunden abgegeben habe, dass er aber nicht wisse, ob dies auch sein Hut sei.
Streng unterscheidet Hoerster zwischen der Bedeutung von Begriffen und deren Begründung. Dabei stellt er fest, dass gelegentlich Begründungen für Begriffe gegeben werden, die zuvor gar nicht näher bestimmt wurden. Sein bekanntestes Beispiel hierfür ist der Begriff Menschenwürde oder Verletzung der Menschenwürde, die nichts weiter besagten, als dass mit einem Menschen nicht nach Belieben wie mit einer Sache umgegangen werden dürfe. Eine solche Bestimmung sei aber zu vage, als dass sich in den meisten Anwendungsfragen konkrete Folgerungen daraus schließen ließen. Die Menschenwürde sei fast ohne jeden deskriptiven, sprich etwas beschreibenden Gehalt, eine Leerformel, die einem Orakel gleich zwar im Anrufungsfalle sofort zur Stelle sei, aber für gewöhnlich nur dunkle, unausweisbare Sprüche bereithalte, in die dann jeder einfach das hineinlege, was ihm als richtig und gut oder als böse und verwerflich erscheine. Hierdurch werde diese unbestimmte Leerformel schnell zur ideologischen Leerformel, deren Begründungen dazu häufig weltanschaulich, ja religiös eingefärbt seien, was sich mit den Grundlagen einer offenen Gesellschaft mit liberalem Rechtssystem, das sich zu weltanschaulicher Neutralität bekenne, nur schwer vereinbar sei. In der Aufdeckung solch versteckter, weltanschaulicher Prämissen, die nur scheinbar verallgemeinerungsfähig sind, vielen Menschen aber auf Anhieb intuitiv einleuchten, obwohl sie kritischer Prüfung nicht standhalten, liegt eine Stärke des Preisträgers.
Darüber hinaus geht es Hoerster in seinen Schriften um die Freilegung eklatanter innerer Widersprüche – nicht allein in der Argumentation, sondern auch zwischen Reden und Handeln, Theorie und Praxis. Hierbei entlarvt er so manches Bekenntnis als bloßes Lippenbekenntnis. Beispielsweise bleibt ihm unverständlich, wie man die Spirale als Alternative zur Empfängnisverhütung bedenkenlos den Frauen zur Verfügung stellen könne, welche die Einnistung der befruchteten Eizelle, also des Embryos, in die Gebärmutter verhindere, aber Embryonen verbrauchende Stammzellforschung zum Zweck der Therapie schwerer Krankheiten aus Gründen eines zu gewährleistenden Lebensschutzes unter Androhung von Strafe verbieten möchte.
Solchen und vielen anderen Ungereimtheiten der Rechtswirklichkeit rückt der Preisträger mit präzisem analytischen Besteck zu Leibe. Ebenso sorgfältig wie kritisch überprüft er die Tragfähigkeit überlieferter Rechtsvorstellungen und Moralbegründungen und denkt hierbei die gewonnenen Resultate konsequent zu Ende - wie im 19. Jahrhundert der hier zur Illustration herangezogene Dichter Friedrich Hebbel, dem bei einer Abendgesellschaft in Paris eine Verehrerin überraschenderweise einen Heiratsantrag machte. Über dieses Angebot bass erstaunt, fragte er sie, wie das denn zugehen solle, da sie doch bereits verheiratet sei. Hierauf antwortete die Dame kaltblütig konsequent, dass es nur eines Wortes von Hebbel bedürfe, und sie sei morgen Witwe! Da Hebbel sich geschmeichelt fühlte, glaubte sie sich bereits am Ziel. Aber sie hatte sich getäuscht. Hebbel lehnte den Antrag ab, weil ihm Garantien dafür fehlten, dass sie nicht auch ihn schon übermorgen einem anderen zuliebe aus dem Wege räumen würde - und so bat er um Verständnis, dass sie keine Partie für einen Mann sei, der noch anderes in der Welt vorhabe, als zu heiraten, wenn sie sich mit solcher Leichtigkeit zur Witwe machen könne. Hier hat ein Dichter einen Gedanken konsequent zu Ende gedacht – unverblendet, nüchtern, kompromiss- und schonungslos.
Genauso geht der Preisträger vor - ohne Zugeständnisse an all jene, die rationales Denken anzuhalten versuchen. Hierbei kommt er öfter zu Resultaten, welche die Experten wie die Öffentlichkeit aufschrecken, ja gegen sich aufbringen, wenn er etwa bezweifelt, dass Embryonen und Föten ein Lebensrecht und Menschenwürde besitzen oder die Zulassung der aktiven Sterbehilfe in bestimmten Fällen befürwortet.
Der Kompromiss liegt ihm nicht und somit auch nicht die Politik im Allgemeinen und die Rechtspolitik im Besonderen, deren Tagesgeschäfte nicht ohne Kompromisse erledigt werden können, weil hier zu verschiedene Interessen aufeinander prallen. Dabei stehen politische Tagesgeschäfte gar nicht unter den Anforderungen logischer Widerspruchslosigkeit, absoluter Klarheit und stringenter Konsequenz. Das muss in den Ohren eines Philosophen scheußlich klingen, und tatsächlich ist es enttäuschend, ja ärgerlich. Jedenfalls macht es das Politische für Hoerster von vornherein suspekt. Allerdings zeugt es von Realitätssinn, wenn man auch die Bedeutung des Kompromisses zu würdigen weiß, der als solcher immer gegen die Regeln der logischen Widerspruchsfreiheit verstößt. Einen Kompromiss finden heißt nämlich nicht, einen Interessenkonflikt zu lösen, was oftmals unmöglich ist, sondern lediglich einen Konflikt zu schlichten – und das bedeutet: Man arrangiert sich irgendwie! Bei solchen Arrangements kommt es gar nicht auf Widerspruchsfreiheit, Klarheit und Konsequenz an, vielmehr geht es um Aufrechterhaltung der politischen Handlungsfähigkeit und Bewahrung des sozialen Friedens.
Hoerster ist ein solches Denken eher verdächtig. Denn er ist ein rechtsethischer Purist und Rigorist, ein intellektueller Extremkletterer im Gebirge der juristischen und ethischen Grundlagenforschung ohne Bereitschaft zu Konzessionen. W ohlgemerkt, er ist ein Draufgänger im Denken mit einem gewissen Ekel vor großen Worten – nur, ist er deshalb auch ein Draufgänger im Leben? Im Umgang ist er etwas steif, ein wenig hölzern, mehr ernst, zugleich aber herzlich und überaus gastfreundlich. Dazu mangelt es ihm nicht an trockenem Humor. Doch ein Abenteurer und Vagabund scheint dieser kühle Kopf, der gerne heiße Eisen anpackt, welche die Gemüter erhitzen, nicht zu sein. Aber welcher Ordinarius ist das schon! Das Dionysische, Exzess und Ausschweifung scheinen ihm nicht zu liegen. Sobald jedoch die Rede auf Musik, speziell auf Rachmaninow zu sprechen kommt, wird der Hobbypianist geradezu überschwänglich, ja euphorisch. Musik – von Thomas Mann als die faszinierendste Erscheinung der Kultur gepriesen – ist zweifellos eine seiner großen Leidenschaften. Vielleicht kann er dem Physiker Werner Heisenberg zustimmen, der einmal sagte: „Ohne Musik kann man wirklich nicht leben. Aber wenn man Musik hört, kommt man manchmal auf die absurde Idee, dass das Leben einen Sinn hätte.“
Aber was soll das sein – Sinn des Lebens? Auch in dieser Frage bleibt der Philosoph skeptisch. Metaphysischen Budenzauber lehnt er ab.
Damit zusammenhängend verwirft Hoerster jede Form des so genannten Natur- und Vernunftrechts. Es gebe keine uns Menschen vorgegebenen, gleichsam angeborenen Rechte auf irgendetwas. Auch besäßen wir Menschen genauso wenig wie Tiere einen erkennbaren Eigenwert, aufgrund dessen wir bereits Wertschätzung verdienten. In dieser Frage vertritt Hoerster eine rechtspositivistische, nominalistische Position, wonach alle Werte und Rechte menschliche Setzungen sind. Zugleich aber geht er über den Rechtspositivismus hinaus, insofern er Moral- und Rechtsnormen für intersubjektiv begründbar hält. Allgemein vertretbare Moral- und Rechtsnormen ließen sich auf elementare Interessen zurückführen, die so gut wie alle Menschen miteinander teilten: etwa das Überleben, Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit. Urteilsfähige und aufgeklärte Menschen seien normalerweise daran interessiert, die Erfüllung solcher Bedürfnisse, Neigungen und Wünsche in den Rang verbindlicher Rechtsnormen zu heben. Eine auf solche Interessen gegründete Rechtsethik benötige weder Natur- und Vernunftrecht noch Religion und Metaphysik, um Rechtsnormen verbindlich und erzwingbar zu machen.
Wie bereits betont, befasst sich Hoerster nicht nur mit Ethik und Recht, sondern auch mit Religion. In detailgenauen Untersuchungen zeigt er auf, warum Gott höchstwahrscheinlich nicht existiert. Die Plausibilitätsbedingungen hierfür sind seiner Auffassung nach zerbrochen. Es gebe keine ausreichend rationalen Gründe, noch an Gottes Existenz zu glauben, was nicht weiter schlimm sei, denn Gott sei ohnehin für moralisches Handeln und ethische Begründung genauso verzichtbar wie für die Bewältigung existenzieller und praktischer Lebensfragen. Zweifellos werden viele Zeitgenossen das ganz anders sehen, überzeugt davon, dass höher als die Wahrheit die Frage stehe, ob und wie sich mit ihr leben lasse. Tatsächlich bleibt der Mensch auch ohne religiösen Zuspruch ein trostbedürftiges Lebewesen, weil er nicht beliebig vor den Härten des Daseins wie Leid, Krankheit, Verlust, Verlassenheit und Tod fliehen kann. Anders formuliert wird das Leben ihm nicht nur geschenkt, sondern auch auferlegt und zugemutet. Seit jeher besteht eine herausragende Leistung der Religion in der Eindämmung archaischer Ängste, der Bannung des Schreckens, den die nackten Tatsachen des Lebens und der Welt hervorrufen. In hoffnungsvollem Vertrauen auf Gott erfahren Gläubige eine Art Mitgefühl, Anteilnahme an ihren Beschwernissen, die zwar einerseits niemand ihnen abzunehmen vermag, die sie aber andererseits an Gott abzugeben glauben, so dass sich das erleichternde Gefühl einstellen kann, nicht selbst und allein alles tun und tragen zu müssen, was einem obliegt und unangefordert zufällt. Doch Hoerster ist davon überzeugt, dass Religionen mehr Unheil stifteten als Lebensvertrauen und Weltbehagen schenkten, bedenke man nur die zahllosen Verbrechen, die im Namen Gottes oder Allahs begangen wurden und noch immer werden. Davon abgesehen werde eine Position nicht schon deshalb glaubwürdig, weil es den Menschen schwer falle, ohne deren Unterstützung mit Leben und Welt zurechtzukommen. Für ihn ist es vorrangig das Scheitern der Theodizee, das die Annahme von der Existenz Gottes in eine tiefe Plausibilitätskrise stürzt.
Heute leben wir in einer Gesellschaft, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich immer weiter säkularisierenden Umgebung einstellt. So lebt auf der einen Seite die Religion fort, auf der anderen wächst aber die Zahl der Menschen, die sich davon abwenden. Wie viele Bürger kennen die Sonn- und Feiertagsregelungen nur noch als willkommene Gelegenheiten zum Ausschlafen und schätzen Gotteshäuser lediglich als Immobilien in bester Ortslage. Immer mehr Zeitgenossen sind mittlerweile so sehr heidnisch, dass sie nicht einmal mehr wissen, dass sie Heiden sind. Sie müssen sich nicht mehr vom Tod Gottes wie von einem schweren Erdbeben erholen. Sie sind schon über den Atheismus hinaus. Denn sie gehen einfach nur gleichgültig an der Religion vorüber. Deshalb rümpfen sie auch ihre Nase über Religionskritik, weil sie in Gott nichts mehr sehen, was überhaupt noch widerlegt werden müsste. Religionskritik gehört für sie ins 19. Jahrhundert. Heute sei Religion nur noch zu verabschieden – und das sei schon alles. Darum können sie mit Religionskritik kaum noch etwas anfangen; sie langweilt sie nur. Deshalb möchte man auch gerne wissen, warum Hoerster noch kritisch die Frage nach Gott aufwirft, welche Gläubige sowieso nicht Atheisten werden lässt und für Ungläubige bereits erledigt ist?
Hinzu kommt eine Gemeinsamkeit aller religionskritischen Bücher der Gegenwart von Mackie über Dawkins bis Hoerster: Die vorgebrachten Argumente gegen Gott und Religion sind seit dem 18. und 19. Jahrhundert – von Hume, Lamettrie und Holbach über Heine, Ruge, Hess, Stirner, Haeckel, Bauer, Feuerbach, Bakunin, Marx, Nietzsche und Freud – hinlänglich bekannt. Wozu also dieser so genannte „Neue Atheismus“ in säkularen Gesellschaften, in denen Religion und Kirche weiter schwinden und es offensive Religionskritik vermutlich nur deshalb für kurze Zeit auf Bestsellerlisten schafft und auf ein breiteres Bevölkerungsinteresse stößt, weil die Medien es so wollen? Rufen vielleicht das Erstarken des Islamismus, des Terrors im Namen Allahs, und die bunten Fernsehauftritte der katholischen Folklore, die voreilig als Renaissance des Religiösen missverstanden werden, die neue akademische Religionskritik als Gegenbewegung auf den Plan? Das mag teilweise zutreffen, nur Hoersters Schriften liefern hierfür keinerlei Anhaltspunkte.
Obwohl analytischer Aufklärer vermag das Religiöse den katholisch sozialisierten Hoerster irgendwie weiter in Bann zu schlagen, ihn trotz seines Atheismus zu faszinieren – andernfalls lohnte sich die Mühe für ihn nicht, sich mit dem Religiösen bis zur Lehre über die Engel intensiv zu befassen. Das ist typisch für eine Generation von Philosophen – angefangen mit Karl Löwith über den Tübinger Nestor Walter Schulz bis zu dem Münsteraner Ordinarius Hans Blumenberg, die zwar alle gottlos, aber Gott noch nicht losgeworden sind. Denn ein konsequenter Atheismus ist nicht einmal mehr atheistisch, weil er nicht nur Gott und Religion, sondern dazu noch den Abschied von Gott und Religion verabschiedet, an denen er so uninteressiert vorübergeht wie Epikur an den alten Göttern. Allerdings vollzieht Hoerster den Abschied vom Abschied von Gott und Religion nicht. Dafür faszinieren und amüsieren ihn diese Phänomene zu sehr.
Nun ist es genau diese Unfähigkeit zur Abschiedsverabschiedung wie das Eintreten für analytische Aufklärung und schließlich das Engagement für einen säkularen Humanismus, was Hoerster als würdigen Träger des Ludwig-Feurbach-Preises empfiehlt, verliehen vom Bund für Geistesfreiheit in einem Bundesland, in dem der Abschied von Gott und Religion noch ein halbwegs Aufsehen erregendes Ereignis darstellt und viele Menschen vom Abschied vom Abschied von Gott und Religion tatsächlich noch weit entfernt sind.



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