Die 13 Thesen sahen eine Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche im Sinne einer strikten Trennung beider voneinander vor, so unter anderem die Abschaffung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für die Kirchen, die Ersetzung der Kirchensteuer durch ein kircheneigenes Beitragssystem, Ablösung sämtlicher exklusiver Staatsleistungen an die Kirchen und die Aufhebung der bestehenden Staatskirchenverträge und Konkordate. Damit wurde erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik von einer regierungsverantwortlichen Partei das etablierte Staatskirchensystem offen problematisiert.
Auch wenn die Kirchenfürsten darin Angriffe auf die Kirche sahen und sehen, es ging und geht Laizisten nicht um Unterdrückung von Christen und ihren Organisationen. Nein, auch sie sollen sich frei entfalten können, frei über Mitgliedschaft, Austritt oder Nichtmitgliedschaft entscheiden können. Die verfassungsgemäß gebotene Trennung von Staat und Kirche, konkreter: Erst die Trennung von Staat und Kirchen-, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ermöglicht diesen Organisationen und ihren Mitgliedern den Weg zu innerer Freiheit, zu Weiterentwicklungen... Und wenn man seine Mitgliedsbeiträge - irreführend Kirchensteuer genannt - selbst einziehen muß - und diese nicht über Arbeitgeber und staatliche Finanzämter eintreiben läßt, dann muß man sich als Kirchenfunktionär wirklich um seine „Schäfchen" und ihre individuellen Belange kümmern!
Wenn wir gegen die Privilegien weniger auftreten, dann sind wir primär für die Gleichberechtigung aller!
Als sich im Jahre 2010 die Laizisten in der SPD zusammenfanden - Ingrid Matthäus-Maier war entscheidend daran beteiligt, konnten sie in ihrem „Forderungen" genannten Grundsatzpapier inhaltlich ganz wesentlich auf den FDP-Beschluß von 1974 zurückgreifen. Fast zeitgleich gründeten sich laizistische Arbeitsgemeinschaften in der Partei DIE LINKE. Und auch für die linken Laizisten stellten die ursprünglich FDP-eigenen Forderungen Ausgangspunkt für die eigene Programmatik.
Insofern ist das von Ingrid Matthäus-Maier mitverantwortete FDP-Papier ein gutes, ein seltenes Beispiel dafür, daß bestimmte gesellschaftliche Forderungen durchaus von Mitgliedern unterschiedlicher politischer Parteien getragen werden können. Und so sollte doch eigentlich Politik für die Menschen, für den Menschen, aussehen:
Das Gemeinwohl sollte über unangemessene Privilegien gestellt werden können!
Wenn Laizisten, egal ob religionsfrei oder aber nach wie religiös, für die geistige Freiheit eintreten, dann sind sie selbstverständlich auch gegen Verhältnisse und Bestimmungen, die dieser Freiheit entgegenstehen. Das aber ist etwas ganz anderes, als wir es von zahlreichen Ein-Punkt-Bewegungen, die nur gegen etwas sind, kennen. Es geht uns doch mit unseren laizistischen Forderungen keinesfalls um blindwütige Zerstörung, sondern einzig und allein um von Menschen freiwillig getragene konstruktive Entwicklung!
Und somit ist, ich betone es, ist das Postulat „für eine freie Kirche in einem freien Staat" eigentlich für jede Partei geeignet und sehr wohl auch annehmbar für jedes einzelne gläubige Mitglied einer Religionsgemeinschaft.
Ingrid Matthäus-Maier ganz emotional
Und so habe ich den Vortrag von Ingrid Matthäus-Maier „Laizismus in Deutschland? - eine juristische und politische Betrachtung" - gehalten auf der bereits erwähnten Akademie-Tagung" nach wie vor in guter Erinnerung. Aber da sprach nicht nur die erfahrene Juristin, auch nicht die erfahrene Politikerin. Da sprach ganz emotional nicht minder die Frau und Mutter. Gestatten Sie mir zwei Zitate:
„Wie stark das katholische Umfeld in Münster war, ist anhand einer Begebenheit zu erläutern, die uns sehr betroffen machte. Ich wohnte zur Untermiete bei einer sehr netten und freundlichen katholischen Familie. Mein Mann war dann auch öfter zu Besuch. Eines Tages kommt die etwa zehnjährige Tochter zu mir ins Zimmer und weint. Als wir sie fragen, warum sie weint, sagt sie, sie hätte jetzt gehört, weil wir beide nicht in der Kirche seien, kämen wir später, wenn wir sterben, in die Hölle. Das hat sie wirklich ganz ernst gemeint."
Kommentar überflüssig. Aber einer dennoch: Da sehen wir, was religiöse Indoktrinierung, was Religionsunterricht in staatlichen Schulen über Generationen hinweg anrichten kann...
Ich zitiere weiter:
„Mein Mann und ich haben auch persönlich die enge Verflechtung von Kirche und Staat erlebt. Als wir in das Rheinland zogen, gab es da fast nur katholische Kindergärten. Der katholische Pfarrer kam ins Haus und fragte: 'Warum steht denn bei Ihnen überall in der Anmeldung Strich - Strich - Strich - Strich?' Das sagte mein Mann, weil wir alle nicht in der Kirche sind. Watum wir denn in einen katholischen Kindergarten die Kinder geben wollen? Ja, sagte mein Mann, hier ist weit und breit kein anderer. Das ließ der Pfarrer nicht zu, unsere Kinder wurden dann in den Waldorfkindergarten geschickt. Das war zwar nicht weiter schlimm, aber wir mußten viele, viele Kilometer fahren, was für die Kinder und uns nicht besonders angenehm war."
Tja, und so ähnlich sieht es seit 1990 nun auch fast überall in ostdeutschen Landen aus. Gab es früher nicht nur in den Städten, sondern fast auch in jedem Dorf, einen Kindergarten in kommunaler Trägerschaft, so existieren hierzulande fast keine solchen mehr, sondern die bestehenden wurden größtenteils durch die Politik in kirchliche Hände gegeben - und das trotz zu einer 70 bis 80 Prozent religionsfreien Bevölkerung. Oder richtiger gerade deshalb!
Ingrid Matthäus-Maier sagte auf der Akademie-Tagung auch, warum das so ist, daß das nichts, aber auch gar nichts mit sozialer Verantwortung habe, denn
„die Kirchen werden keinesfalls den Zugriff auf die Kinder im Kleinkindalter und in der Grundschule aus der Hand geben - zusammen mit der Taufe (als unmündiges Baby) ist dies das Einfallstor für ihre kirchliche Missionierung."
Warum unbedingt missioniert werden muß, brauche ich hier in diesem Kreise wohl nicht genauer ausführen...
Gleiche Arbeitsrechte für alle abhängig Beschäftigten
Und eben, weil zu Menschenrechten und Freiheit auch gleiche Rechte für alle - insbesondere in Arbeitsverhältnissen - gehören, engagierte sich Ingrid Matthäus-Maier in der Kampagne „GerDiA - Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz" an prominenter Stelle auch gegen das besondere Arbeitsrecht in Einrichtungen, die den Kirchen gehören bzw. sich in deren Trägerschaft, die aber zu 90 und mehr Prozent aus öffentlichen Kassen finanziert werden, befinden.
In einem Grundsatzartikel hat sie sich mit den wichtigsten Behauptungen der Kirchen auseinandergesetzt:
„1. Die Grundlage ergebe sich aus dem 'kirchlichen Selbstbestimmungrecht' in Art 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV), der über Art. 140 des Grundgesetzes (GG) Bestandteil des GG geworden ist.
Art. 137 Abs. 3 WRV lautet: 'Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze.' Der Wortlaut zeigt eindeutig, dass es um „Selbstverwaltung", und nicht um Selbstbestimmung geht. In der Weimarer Zeit, in der ja dieser Artikel entstand, ging man davon aus, dass die Kirche ordnet und verwaltet, was zu ihrem Kompetenzbereich gehört. Damals war unstreitig: was zum Kompetenzbereich gehört, entscheidet selbstverständlich der Staat. Und dass dann innerhalb des Kompetenzbereichs der Kirchen die „für alle geltenden Gesetze" gelten, war auch klar. (...)
2. Die Nichtgeltung des Betriebsverfassungsgesetzes sei verfassungsrechtlich geboten.
Dies ist eindeutig falsch aufgrund einer sehr einfachen Überlegung: In der Weimarer Zeit gab es seit 1920 ein Betriebsrätegesetz (ähnlich dem heutigen Betriebsverfassungsgesetz), das auch für die Kirchen und ihre Einrichtungen galt. Das heißt, dass Art. 137 Abs. 3 WRV und das damalige Betriebsrätegesetz gleichzeitig galten. Dann ist das selbstverständlich auch heute verfassungsrechtlich erlaubt. Erst unter der Adenauer-Regierung im Nachkriegsdeutschland wurde die Nichtgeltung des Betriebsverfassungsgesetzes eingeführt. (...)"
Zusammenfassend sei gesagt, die GerDiA-Kampagne enthielt viele Elemente, die eine moderne Interessenvertretung für religionsfreie Menschen kennzeichnen könnten. Sie verknüpfte eine kontinuierliche Ansprache der Medien mit Kontaktpflege in Parlament und Parteien, sorgte durch die Erstellung einer wissenschaftlichen Studie dafür, dass sie mit exklusivem Wissen aufwarten konnte, und brachte an zwei Aktionstagen die säkulare Szene auf die Straße.
Für die Selbstbestimmung bis zum Lebensende
Zu Ingrid Matthäus-Maiers humanistischem Engagement ist nicht zuletzt ihre Tätigkeit als Koordinatorin des „Bündnisses für Selbstbestimmung bis zum Lebensende" zu nennen. Unmißverständlich äußerte sie sich, sehr gut juristisch fundiert, in den Medien gegen die Kriminalisierung von Freitod und Sterbehilfe. Leider setzte sich eine Bundestagsmehrheit mit einer Verschärfung des Strafrechtes über das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen hinweg. Sie erklärte dazu:
„In einem religiös-weltanschaulich neutralen Staat darf die eigene religiöse Überzeugung nicht anderen aufgezwungen werden - vor allem nicht mit dem Strafrecht."
Erste Vertretung der Säkularen in einem Rundfunkrat
Ich könnte hier noch weitere Tätigkeitsfelder und viele Meinungsäußerungen von Ingrid Matthäus-Maier anführen. Doch allein schon das Gesagte dürfte ausreichen, um die Verdienste der heute Auszuzeichnenden anzudeuten.
Als eine Auszeichnung ist in jedem Falle auch zu sehen: Im Juli dieses Jahres hat der Landtag von Nordrhein-Westfalen entschieden, daß künftig auch die sogenannten Konfessionslosen eine „gesellschaftlich-relevante Personengruppe" seien und daß diese deshalb ab Dezember einen Vertreter in den Rundfunkrat des Westdeutsche Rundfunks entsenden dürfen. Diesen Platz einnehmen wird, übrigens auf gemeinsamen Vorschlag von HVD, IBKA und gbs hin - Ingrid Matthäus-Maier. Für dieses fünfjährige Mandat sei ihr viel Erfolg. Zu wünschen ist aber unbedingt auch, daß endlich auch die anderen deutschen Landtage solche längst überfälligen Entscheidungen treffen.
Feuerbachs „Willst du Gutes tun, dann tue es für den Menschen" ist nicht nur Postulat, sondern wird von unzähligen Menschen auch gelebt. Für Politiker gilt das leider nicht in jedem Falle. Der Politikerin Ingrid Matthäus-Maier kann aber ohne Abstriche bescheinigt werden, daß sie Feuerbach verstanden hat.
Aber gestatten Sie mir eine letzte Abschweifung. Es war ein Augsburger, Bertolt Brecht, der in seinem Gedicht „Die Teppichweber von Kujan Bulak" schrieb: „Sie ehrten ihn, indem sie sich nützten. Sie hatten ihn also verstanden."
Und so ehren wir Ingrid Matthäus-Maier nicht nur mit der Verleihung des Ludwig-Leuerbach-Preises, sondern wir ehren sie auch dadurch, daß wir uns die von ihr angestoßene politische Programmatik zu eigen machen und daß jeder in seinem Wirkungskreis für deren Realisierung eintritt.